Empfehlungen Februar/März 2010
Anlässlich der Reihe "Literatur im Gespräch" im Februar/März drei Buchtipps zu den Autoren
Außerdem Günter Wallraffs ungewöhnliche Expeditionen ins Landesinnere und ein Krimitipp aus Österreich
Literatur im Gespräch: Mittendrin
"Mittendrin" heißt das Motto der diesjährigen Veranstaltungsreihe der Stadtbibliothek Reutlingen "Literatur im Gespräch". Mittendrin in Deutschland, einmal im Osten, einmal im Westen und einmal an der Grenze entlang - so stellen drei Autoren im März deutsche Geschichte am Beispiel einzelner Schicksale dar.
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Familienkrach um Weltpolitik
Maxim Leo: Haltet euer Herz bereit : eine ostdeutsche Familiengeschichte. - Blessing, 2009. - 271 S. |
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Politische Pilgerreise
Peter Schanz: Mitten durchs Land: eine deutsche Pilgerreise. - Aufbau Verlag, 2009. - 252 S. Drei Monate und 1500 Kilometer ist er gelaufen "Mitten durchs Land" von Regnitzlosau bei Hof in Bayern bis nach Lübeck-Travemünde. Dort, wo Bayern, Sachsen und Tschechien aneinander stoßen, nahm Peter Schanz die Spur auf und folgte der alten Grenze zwischen zwei Welten. Er wandert auf dem Kolonnenweg, dem Grenzweg der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, der seit dem Bau der Mauer auf DDR-Seite zur Überwachung der Grenzbefestigungen diente. Die normierten DDR-Betonplatten, die den gesamten Kolonnenweg prägen, haben es ihm angetan, für sie nimmt er wunde Füße und Rückenschmerzen in Kauf. Auf seiner Reise findet er Spuren der Eiszeit, des Nationalsozialismus und der Staatssicherheit. Die Geschichten, die Peter Schanz am Wegesrand findet, sind zum Lachen und zum Fürchten, sie handeln von glücklichen Naturschützern, fröhlichen Apothekerinnen, traurigen Wirten und verwirrten Veteranen. Er sieht Höfe und Siedlungen, die während des Grenzbaus abgerissen wurden, trifft Einheimische und erfährt ihre Schicksale. Er besteigt westdeutsche Aussichts- und ostdeutsche Wachtürme, stolpert über alte Grenzpfähle, wird Spezialist für Grenzmuseen und Mahnmale und findet den Hottest Spot im Kalten Krieg. Er macht sich so seine Gedanken über die deutsche Geschichte, während er die ehemalige Grenze erläuft, die nach zwanzig Jahren Maueröffnung ein grünes Band zwischen Idylle und Isolation geworden ist. Sein Reisebericht ist voll spielerischer Sprache, treffend, nachdenklich, witzig, boshaft und keine einzige Seite langweilig. Sein Sinn für Details und für die Aberwitzigkeiten der deutschen Teilung ergeben eine Reisebeschreibung, die auf sehr persönliche Weise daherkommt. Andrea Däuwel-Bernd Peter Schanz wurde 1957 in Bamberg/Oberfranken geboren und studierte Germanistik, Geschichte und Politologie. Ab 1984 arbeitete er als Dramaturg und Regisseur an verschiedenen Theatern. Er ist Autor von Hörfunkfeatures, Theaterstücken und Reportagen. 2003 veröffentlichte er "87 Tage Blau", das Logbuch einer Erdumrundung auf Frachtschiffen. Er lebt auf der Insel Fehmarn. Autorenlesung mit Peter Schanz am 17. März um 20 Uhr in der Stadtbibliothek Reutlingen |
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Der Duft von Maggi gegen die Magie der GitarreKarl Heinz Bittel: Singen. Ein Anfang. - Osburg Verl., 2009. - 205 S. In der Schule lernen die Kinder noch mit Griffel und Schiefertafel schreiben, in jedem Haushalt gärt das selbst gemachte Sauerkraut im Keller, und per Radio kommt der Beat nach Deutschland. "Singen. Ein Anfang" von Karl Heinz Bittel beschreibt die süddeutsche Kleinstadt Singen in den 50er- und 60er-Jahren und zeichnet ein humorvolles Bild vom Aufbruch in den Wirtschaftswunderjahren. Die Fabriken der Firmen Maggi, Alu und Fitting bestimmen das Leben in der Stadt. Der Horizont endet am Bodensee. Für den jungen Felix kommt die Rettung vor dem einförmingen Alltag aus dem Radio: Musik, am liebsten laut und wild. Mit James Dean, Jimi Hendrix und den Stones kommt eine Ahnung in sein Leben, dass es doch mehr geben muss, als dem von der Familie vorgezeichneten Lebensweg zu folgen. In knappen Momentaufnahmen verdichten sich die Songs der Beatles, die Sehnsüchte eines Teenagers und der allgegenwärtige Geruch von Speisewürze zu einem ebenso präzisen wie humorvollen Sittenbild. Unterhaltsam und leicht zu lesen, dieser Roman über die süddeutsche Nachkriegszeit, das Wirtschaftwunder und die Rebellion der jungen Generation. Andrea Däuwel-Bernd Karl Heinz Bittel wurde 1947 in Singen geboren. Er war Lektor und Verlagsleiter des Münchner Knaus Verlags, in dem er viele Jahre lang das Werk Walter Kempowskis betreute. Seit 1999 lebt er als freier Lektor und Publizist in München. Autorenlesung mit Karl Heinz Bittel am 25. März um 20 Uhr in der Stadtbibliothek Reutlingen |
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Ein 65-jähriger entdeckt Deutschland neu
Günter Wallraff: Aus der schönen neuen Welt: Expeditionen ins Landesinnere. - Kiepenheuer & Witsch, 2009. - 325 S. Er erfährt als Schwarzer einen beschämenden und gefährlichen Rassismus, arbeitet unter härtesten Bedingungen mit erheblichen Verletzungsgefahren in einer Brötchenfabrik für Lidl, lernt die perfiden Methoden der Callcenter kennen, die ihre Angestellten das Rückgrat brechen und sie unaufhörlich zu Lügen zwingen, begibt sich mehrere Monate im Winter als Obdachloser in Deutschland auf Wohnungssuche und trifft sich als Manager mit Deutschlands wohl menschenverachtendsten Anwalt für Arbeitgeberrechte, dessen Machenschaften er in mehreren Beispielen schildert und die gruseliger als jeder Horrorthriller daherkommen. In weiteren Reportagen deckt er auf, wie Arbeitnehmerrechte mit Füßen getreten werden, Unkündbare (Kranke, Betriebsräte, Schwangere...) kündbar gemacht und aus Betrieben gemobbt werden, ganze Betriebsräte verschwinden und zu diesem Zweck sogar brutal zusammengeschlagen werden. Weder das totalitäre, intern sektenähnlich aufgebaute System der Deutschen Bahn unter Hartmut Mehdorn, noch Tochtergesellschaften der Telekom, Fußballvereine oder die von Günter Jauch mit lukrativen Werbegeldern promotete SKL-Show, in dessen Namen Menschen belogen und mit falschen Versprechungen massiv zu Loskäufen gedrängt werden, bleiben außen vor. Die geschilderten Zustände im reichen Deutschland legen schonungslos offen, wie arm das Land in Wirklichkeit ist. Arm an Solidarität, an verantwortungsvoll, unbestechlich und nachhaltig agierenden Politikern und Managern, aber auch an Mitmenschlichkeit und Verbrauchern, die ihr Geld nicht in ökologisch und ökonomisch kurzsichtige Produkte auf Kosten der Umwelt und der Armen in diesem Land und überall auf der Welt anlegen, insofern sie noch eine Wahl haben und nicht selbst schon zu denen gehören, die das System an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt hat. Wallraff offenbart unbestechlich, wie jeder mit seinen täglichen, möglicherweise unreflektierten Kaufentscheidungen, seinem gesamten Lebensstil und seiner Haltung dazu beiträgt, wie das menschliche und gesellschaftliche Klima in Deutschland sich weiterentwickeln wird und worauf wir unaufhaltsam zusteuern werden. Dass es nicht die Armen, Kranken und Opfer einer brutalen Leistungsgesellschaft sind, die sich angeblich vor der Arbeit drücken, mit denen etwas nicht stimmt, sondern allen voran krankhaft profitorientierte Manager, die sowohl mittelständische Betriebe wie auch ihre eigenen Angestellten auf allen Ebenen in menschenverachtender Weise vernichten und ausbeuten, was zwar keine neue Erkenntnis ist – Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel - doch wie sehr sie sich der Politiker und anderer Mächtigen bedienen, wie tief greifend die Verstrickungen in Zeiten der Globalisierung auch für den mündigen Verbraucher tatsächlich sind, ohne die ihre Systeme nicht so reibungslos funktionieren würden, erfährt man in Wallraffs Reportagen viel zu genau. Tanja Schleyerbach Der Titel ist auch als Hörbuch entleihbar. Der Film ist unter dem Titel "Undercover - Reportagen aus der schönen neuen Welt" ebenfalls im MedienMedienMedienbestand. |
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Psychogramm einer österreichischen Kleinstadt
Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens. - Zsolnay, 2006. - 293 S. Sukzessive werden die Bewohner von Furth am See eingeführt. Da wäre zunächst einmal Raffael Horn, (Kinder-)Psychiater an einer Klinik (auch der Autor übt diesen Beruf aus), der bei einer Bach-Sarabande seiner Cello spielenden Frau eine morgendliche Erektion bekommt und dennoch glaubt, sich in die neue Kollegin verliebt zu haben. Er versucht, zu Katharina einen Zugang zu bekommen. Daneben Kriminalkommissar Kovacs, glücklich geschieden, unglücklich liiert und chronischer Besucher eines marokkanischen Biergartens. Weiterhin ein Familienvater, der seine Tochter gegen eine Eisenstange schleudert und dies zusammen mit seiner Frau und der Tochter selbst als Autounfall tarnt. Ein Benediktinerpater, der Stimmen hört, laufsüchtig ist und bei der Beerdigung die Stöpsel seines iPods im Ohr hat. Zwei Söhne eines Autohausbesitzers, der zuverlässig für deren körperliche Bestrafung sorgt. Der 16-jährige hat schon mehrmals eingesessen, der jüngere tötet auf Befehl seines Bruders Tiere im Ort und wird von ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit ebenfalls misshandelt. Enten, Kaninchen und hunderttausende Bienen werden tot aufgefunden. Zuletzt eine junge Mutter, die ihr Neugeborenes für den Teufel persönlich hält. Raffael Horn hat alle Hände voll zu tun. Die Ermittlungen werden beiläufig geschildert, während der Focus auf das Psychogramm der Einwohner gerichtet ist. Manche haben die Süße des Lebens nie gekostet. Österreichische Kleinstadtnormalität, sprachlich treffend seziert mit einer überraschenden Wendung bei der Entlarvung des Täters. Tanja Schleyerbach Der Titel ist auch als Taschenbuch und als Hörbuch entleihbar. |